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Tante Gertrude, der Nobelpreisträger und das Lernen

von Jan 31, 2018Lernen & Vorbereiten

Schon mal was von der Feynman-Technik gehört? Nein? Aber von Tante Gertrude hast du schon gelesen, wenn du Newsletter-AbonnentIn bist! Und kürzlich hast du in diesem Blog auch etwas über Yogi Bhajan gelesen. Und damit kennst du letztlich auch die Feynman-Methode: Wenn du etwas WIRKLICH lernen willst, dann musst du es anderen erklären (können) – und zwar ohne Fachbegriffe. So, wie du es einem Kind erklären würdest – oder eben Tante Gertrude!

Wahrscheinlich weißt du schon, dass ich einen ungewöhnlichen Lebenslauf habe und erst nach dem griechischen Jurastudium nach Deutschland kam. Für ein Jahr und um Material für eine griechische Promotion zu sammeln, wie ich damals dachte. Das war vor bald 25 Jahren. Wir sprachen schon mal darüber, wie selbst ausgeklügelte Pläne Makulatur werden können, z.B. durch eine Krankheit. Hier wurde ich nicht – wie damals durch die Erkältung – gezwungen, den Kurs zu ändern. Vielmehr ergab sich mir eine wunderbare Chance, meine Karriere hier zu starten, die ich gern ergriffen habe. Promoviert wurde ich also doch in Deutschland (in Bonn), dort habe ich mich ebenfalls habilitiert.

Im deutschen Recht zu forschen, das ich nicht zuvor studiert hatte, war natürlich nicht einfach, aber ich blieb dran und so wurde das, was sich anfangs so mühsam und schwierig anfühlte, Schritt für Schritt zweite Natur. Die beiden großen Werke und ein paar Aufsätze waren fertig, die erste Lehrstuhlvertretung kam, gefolgt von anderen und schließlich von der Berufung als Professorin. Jetzt war ich in einer besonderen Situation:

Ich durfte Dinge lehren, die ich mir zuvor selbst beibringen musste.

Unter massivem Zeitdruck.

Das fühlte sich genau so an, wie es auf dem Bild aussieht.

 

Erste Erkenntnis: Lernen durch Lehren

Wenn ich die Forschung in einer neuen Rechtsordnung als schwierig empfunden hatte, lernte ich jetzt regelrecht die Demut: Ich musste nicht nur selbst möglichst flächendeckend die Zusammenhänge erkennen. Ich musste sie so gut „verstanden„ und „im Gefühl“ haben, dass ich sie – nach Möglichkeit leicht verständlich – anderen erklären konnte. Und ich musste damit rechnen, dass jemand weitere Erklärungen und Ausführungen braucht und mir sagt „verstehe ich nicht, warum ist das so?“.

Diese Frage kannst du nicht beantworten, wenn du einfach nur etwas „gelernt“, aber nicht richtig verstanden hast. Schon gar nicht kannst du auf eine leicht abgewandelte Konstellation, über die du nichts konkret gelesen hast, angemessen reagieren.

Die erste Erkenntnis war geboren, entsprechend legte ich den Fokus in der Vorbereitung darin, Zusammenhänge erst selbst zu suchen und zu verstehen und dann zu vermitteln.

Aha-Moment: Funktioniert am besten bei fachfremdem Publikum!

Die zweite, große und eher unerwartete Erkenntnis kam ein paar Jahre später, als ich anfing, Vorlesungen vor juristischen ErstsemestlerInnen und WirtschaftswissenschaftlerInnen zu halten.

Plus Deliktsrecht an der Deutschen Rechtsschule Warschau – mit einem Publikum von ca. 2/3 polnischen Juristen (Studierenden und Diplomierten) und ca. 1/3 Linguisten, die deutsches Recht in Grundzügen lernten, um später juristische Übersetzer zu werden.

Die meisten nehmen an, dass Vorlesungen an Erstis bzw. Nichtjuristen einfacher sind. Ich sage nur: von wegen! Wie erklärst du im ersten Semester die Rechtsgeschäftslehre so, dass irgend etwas für die späteren Semester hängenbleibt? Wie bringst du polnischen Linguisten die drei Kausalitätsstufen im deutschen Deliktsrecht bei? Abstrakter:

Wie erklärst du hochkomplexe juristische Sachverhalte, wenn deinem Publikum (noch) gar keine Fachkenntnisse und gar keine Fachbegriffe bekannt sind?

Aus meiner persönlichen Erfahrungskiste

Die Antwort: Indem du sämtliche Fachbegriffe erst einmal auslässt und erklärst, „worum es hier geht“. 

Einziger kleiner Haken, der aber gleichzeitig Zweck der Übung ist: Dafür musst du selber sehr gut verstanden haben, worum es hier geht! Das braucht erstmal mehr Zeit, als etwas auswendig zu lernen. Aber es hat den unschlagbaren Vorteil, dass du später nicht nur auf dein Gedächtnis angewiesen bist. Vielmehr kannst du – wenn du die Interessenlage verstanden und „im Gefühl“ hast – die Theorie oder Lösung sogar selbst reproduzieren. Oder in einem abgewandelten Sachverhalt anwenden, der eben so abgewandelt weder im Skript stand noch beim Repetitor besprochen wurde. Und das ist es, worum es geht im Examen! Darüber hinaus ist es – das kann ich dir aus eigener Erfahrung bestätigen – ein wunderschönes, irgendwann süchtig machendes Gefühl, immer mehr Zusammenhänge zu erkennen.

Was bedeutet das für dich?

Nein, du musst nicht abwarten, bis du eventuell ProfessorIn geworden bist und Vorlesungen vorbereiten musst bzw. darfst.

Das Konzept kannst (und sollst) du jetzt schon anwenden.

Um zu erkennen, was du kannst in einem konkreten Thema, erklär es jemand anderem. 

Mit wenigen Sätzen und vor allem ohne Fachbegriffe. 

Erklär einfach „nur“ (grins…), „worum es geht“.

Feynman riet, es Kindern zu erklären.

Ich habe Tante Gertrude oder Onkel Wilfried ins Gespräch gebracht in dem Ratgeber, den ich für dich als Dankeschön für deine Anmeldung zum Newsletter erstellt habe. Aber nur, falls die beiden nicht Juristen sind!

Wenn du dich an das Verbot hältst, juristische Fachbegriffe zu verwenden, kannst du auch die Teilnehmer deiner Lerngruppe als Publikum nehmen – das macht ihr dann reihum. Und dann macht ihr es wie im Film „Die Feuerzangenbowle“: „Da stelle me uns e mal janz dumm“! 

Und wenn du auf keinen Fall andere einsetzen willst, dann stell dir vor, deine Aufgabe wäre, Schülern der 11. Klasse Jura beizubringen und zwar so, dass sie im Anschluss nicht alle Mathe studieren wollen. Oder nimm deinen Hund als Publikum – oder im Sommer den Baum neben deinem Lieblingsplatz im Garten. Du verstehst mich schon – auch fiktives Publikum ist ok.

Nur DU musst reell auftreten und erklären bzw. zu erklären versuchen!

Da wo du stockst und/oder unsicher bist, da weißt du, dass du noch nachfassen musst. Dann konsultierst du Skripten, Vorlesungsnotizen, Kommentare und zwar so lange, bis du es in einfachen Worten wiedergeben und auch „verteidigen“ kannst. Und damit wirst du mit jedem Male mehr vernetztes, aktives Wissen haben. Und bald wirst du gar nicht anders lernen wollen, ich verspreche es dir! 

 

Wenn ich übrigens heute einen Aufsatz oder ein Gutachten zu schreiben habe, mache ich zuerst eine fiktive „Vorlesung“ fertig in der Thematik. Um sicher zu sein, dass ich „drin“ bin. Auch die Lösung entwickle ich erst – wie meine Vorlesungen – in Bulletpoints, jeder für einen logischen Schritt stehend. Nur zum Schluss wird dann Fließtext daraus. Seitdem ich das mache, fühle ich mich sehr viel sicherer, keinen Bock geschossen zu haben. Ist das eine Garantie? Natürlich nicht.

Aus meiner persönlichen Erfahrungskiste

Aber ich halte an meiner Erkenntnis fest:

Am sichersten fühle ich mich in den Rechtsgebieten, die ich einfach und in nicht-juristischer Sprache erklären kann.

Yogi Bhajan (ich erwähnte ihn schon mal) formulierte es so:

Wenn Du etwas lernen willst, lies darüber, 

Wenn Du etwas wissen willst, schreib darüber, 

Wenn Du etwas meistern willst, unterrichte es!

Feynman sagte:

Willst du erkennen, ob du nur eine Definition kennst oder das Wesen von etwas, teste dich so: Ohne das neue Wort zu verwenden, erkläre mir in deinen eigenen Worten, was du gelernt hast.

Wer hat es also jetzt erfunden?

Ich? Yogi Bhajan? Feynman? Oder gar die Schweizer?

Keiner und alle zugleich – es ist einfach wahr und wer beim lernen experimentiert und sich selbst beobachtet, wird es bald auch selbst neu erfinden!